Geh toxischen Menschen aus dem Weg
- Isabel Jenni
- 26. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Der Reflex, andere verantwortlich zu machen und wie dich das schwächt.

„Der andere ist schuld, das hat nichts mit mir zu tun.“ Diesen Satz höre ich im Coaching immer wieder. Er taucht dann auf, wenn Klientinnen verletzt, enttäuscht oder frustriert sind, weil ihr Gegenüber Grenzen überschritten hat. Der Kollege, der ständig stichelt. Die Freundin, die nur nimmt, aber nie gibt. Der Partner, der sich emotional entzieht.
Es gibt Situationen, die weh tun. Und ja, manchmal verhalten sich Menschen manipulativ, abwertend oder missbräuchlich. Es gibt Lügen, Ausbeutung, Gewalt. Aber: Solange du im Kopf bei der anderen Person bleibst, hast du keine Macht, etwas an deinem eigenen Erleben zu verändern. Dann verstrickst du dich in endlose Gedankenschleifen:
„Warum ist er so?“
„Wie kann sie mir das antun?“
„Wieso merkt er nicht, wie sehr mich das verletzt?“
Diese Fragen führen in eine Sackgasse. Sie halten dich in der Ohnmacht und verhindern, dass du den Teil erkennst, den du in dieser Dynamik spielst.
Die Falle der Schuldzuweisung
Wenn wir über „toxische Menschen“ reden, liegt der Fokus fast immer auf dem Verhalten der anderen. Auf ihrer Kälte, ihrer Abwertung, ihrer Manipulation. Das gibt uns ein klares Feindbild – und kurzfristig ein Gefühl von Erleichterung. Endlich hat das Kind einen Namen. Endlich gibt es eine Erklärung für den Schmerz.
Das Problem: Mit dieser Erklärung entlastest du dich zwar kurzfristig, aber du schwächst dich langfristig. Denn solange du die Verantwortung komplett nach außen schiebst, bleibst du abhängig davon, wie der andere sich verhält.
Wenn er sich ändert, geht es dir gut.
Wenn er sich nicht ändert, bleibst du im Leid.
Dein inneres Gleichgewicht hängt an einer Bedingung, die du nicht steuern kannst.
Warum wir toxische Muster mitmachen
Um zu verstehen, warum wir in „toxische Beziehungen“ rutschen, reicht es nicht, auf das Verhalten der anderen zu schauen. Entscheidend ist, was in uns selbst passiert.
1. Frühe Prägung
Viele meiner Klientinnen haben früh gelernt:
„Ich bin verantwortlich für die Stimmung anderer.“
„Wenn ich angepasst bin, bekomme ich Liebe.“
„Wenn ich Grenzen setze, verliere ich Nähe.“
Ein Kind kann sich nicht leisten, Eltern abzulehnen, auch wenn diese verletzend oder überfordernd sind. Es passt sich an – und lernt, die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken. Dieses Muster wirkt später unbewusst weiter: Auch als Erwachsene halten sie Beziehungen aus, die ihnen schaden.
2. Nervensystem und Bindung
Unser Nervensystem ist auf Sicherheit gepolt. Vertraut ist das, was wir früh erlebt haben – auch wenn es destruktiv war. Wer als Kind emotionale Unberechenbarkeit gewohnt ist, spürt paradoxerweise mehr Ruhe im Chaos als in stabilen Beziehungen. Der Körper kennt das Drama. Stille und Klarheit dagegen fühlen sich oft fremd oder sogar bedrohlich an.
3. Innere Anteile
In uns wirken verschiedene „Stimmen“ oder Anteile:
Ein angepasster Anteil, der um jeden Preis Harmonie will.
Ein verletzter Anteil, der ständig Bestätigung sucht.
Ein kontrollierender Anteil, der Angst hat, Fehler zu machen.
Solange diese Anteile das Steuer übernehmen, wiederholen wir alte Dynamiken – selbst wenn wir rational längst verstanden haben, dass die Beziehung uns nicht guttut.
4. Die Illusion der Kontrolle
Indem wir die Schuld beim anderen suchen, behalten wir scheinbar die Kontrolle: „Ich könnte ja glücklich sein – wenn er sich ändern würde.“ Das fühlt sich leichter an, als die bittere Wahrheit anzuerkennen: Die Veränderung liegt in meiner Verantwortung.
Den Blick nach innen richten
Der Ausstieg aus toxischen Mustern beginnt nicht damit, den anderen zu entlarven. Er beginnt damit, dich selbst ehrlich zu hinterfragen.
1. Die Dynamik durchschauen
Frag dich:
An welchem Punkt sage ich nicht klar, was ich brauche?
Wo mache ich weiter mit, obwohl mein Körper längst „Stopp“ schreit?
Welche Angst hält mich davon ab, Konsequenzen zu ziehen?
Diese Fragen sind unbequem. Aber sie holen dich aus der Opferrolle zurück in die Selbstverantwortung.
2. Den Körper ernst nehmen
Dein Körper weiß vor deinem Kopf, wenn etwas nicht stimmt. Druck in der Brust, ein Kloß im Hals, Anspannung im Bauch – das sind Signale, die du nicht wegargumentieren solltest. Erst wenn du lernst, diese Empfindungen wahrzunehmen und ernst zu nehmen, kannst du deine Grenzen klar ziehen.
3. Alte Glaubenssätze entkräften
Typische Überzeugungen sind:
„Ich darf niemanden verletzen.“
„Ich bin schuld, wenn der andere leidet.“
„Ohne mich schafft er es nicht.“
Diese Sätze sind nicht die Wahrheit. Sie sind Überbleibsel aus deiner Kindheit. Sie verlieren erst ihre Macht, wenn du sie erkennst und hinterfragst.
4. Klare Entscheidungen treffen
Der entscheidende Schritt ist nicht, den anderen zu analysieren. Sondern: eine klare Entscheidung für dich selbst zu treffen.
„Ich gehe auf Distanz, auch wenn er mich beschuldigt.“
„Ich bleibe bei meinem Nein, auch wenn sie sauer ist.“
„Ich beende diese Beziehung, auch wenn es weh tut.“
Das ist der Moment, in dem du Verantwortung übernimmst – und damit deine innere Stärke zurückholst.
Beispiel aus der Praxis
Eine Klientin kam zu mir, weil sie seit Jahren in einer Beziehung mit einem Mann feststeckte, der sie klein machte, kontrollierte und ihr Schuldgefühle einredete. Sie nannte ihn „toxisch“. In unserer gemeinsamen Arbeit stellte sich heraus: Sie hatte in ihrer Herkunftsfamilie nie gelernt, klar „Nein“ zu sagen, wenn ihre Bedürfnisse übergangen wurden. Denn wenn sie das tat, wurde sie als schwierig abgestempelt oder kompliziert. Deswegen traute sie sich nichts zu sagen und hoffte insgeheim, dass er es irgendwann merken würde. Und verstärkte damit die Dynamik, dass er sie klein machte, kontrolliert und ihr Schuldgefühle einredete. Erst als sie verstand, dass ihr Schweigen Teil des Musters war, konnte sie aussteigen.
Das war kein leichter Weg. Aber es war der einzige Weg, der sie wirklich frei machte.
Deine Verantwortung, deine Freiheit
„Toxische Menschen“ gibt es, keine Frage. Aber die entscheidende Frage ist nicht, warum sie so sind. Sondern: Warum bleibe ich in einer Dynamik, die mir schadet?
Solange du im Außen suchst, bleibst du in Abhängigkeit. Erst wenn du bereit bist, deinen Teil zu erkennen, kannst du Verantwortung übernehmen und dadurch wirklich frei werden.
Dein Leben verändert sich nicht dadurch, dass andere sich bessern. Es verändert sich, wenn du deine Muster erkennst, deine Grenzen setzt und konsequent deine Entscheidungen triffst.
Ich weiß aus eigener leidvollen Erfahrung, das ist keine leichte Wahrheit. Aber es ist die einzige, die dich stark macht. Unabhängig und wirklich frei.
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